Warum gibt es diesen Blog?

Darauf gibt es ein paar Antworten: seit Oktober 2008 führe ich meinen Blog „My New Life In Canada“. Nachdem ich da hin und wieder Einträge über mein Leben in Paraguay eingestellt habe, bekam ich viele Mails, Kommentare und Telefonate mit der Bitte, weitere Beiträge über diese Zeit zu schreiben.

Obwohl es genauso mit meinem Leben zu hat, passt es aber nicht unbedingt zwischen die Berichte von meiner neuen und jetzigen Zeit in Kanada.

Dazu kommt, dass aus dieser schicksalhaften Zeit der Einwanderer in Paraguay von Anfang 1900, sehr wenig niedergeschrieben wurde. Die Älteren, die es miterlebt haben, sind leider schon verstorben.

Doch mein wichtigster Beweggrund für diesen Blog ist, das Erlebte von damals an meine Kinder und Enkel weiterzugeben. Sollten sie irgendwann wissen wollen, wie es damals war, müssen sie sich keine Vorwürfe machen, den Zeitpunkt danach zu fragen, verpasst zu haben.

Genau das ist mir passiert. Als ich jung war, interessierte es mich nicht. Ich fand die Geschichten aus der alten Heimat und die des neuen Aufbaus in Südamerika langweilig und nervig.

Ich war Kind und wollte Kind sein. Als ich erwachsen wurde, hatte ich meine eigenen Träume und Verrücktheiten im Kopf. Dann hatte ich mein eigenes Leben und meine eigene Familie.

Später wollte ich es wissen, doch die Großeltern waren längst verstorben, mein Vater auch und meine Mutter war von mir zu weit entfernt.

Bestimmt habe ich im Leben viele Fehler gemacht. Anstatt darüber zu jammern, betrachte ich es als eine Lehre und versuche, es in Zukunft besser zu machen.

Doch würde mir das Schicksal einen einzigen Tag meiner Jugend zurückgeben, würde ich ihn mit meinem Großvater „Opa Dreyer“ verbringen und ihm pausenlos Löcher in den Bauch fragen!

Diesen Blog widme ich meinen Kindern

Sonja A. McGill und Stephen J. Bennett.


„Ein niedergeschriebenes Wort, wird durch seine Veröffentlichung zu einem eigenen Leben erweckt“.

Montag, 2. April 2012

Hühner fühlen

Die Überzahl meiner Leser, wissen bestimmt nichts mit dem Titel anzufangen. Für uns Kinder, damals in Paraguay, bedeutete es „nur“ eine weitere tägliche Aufgabe; Die Hühner am frühen Morgen zu befühlen, ob sie an diesem Tag ein Ei legen oder nicht.
Glaubt bloß nicht, das wäre so einfach wie z.B. bei einer Brustkrebsvorsorgeabtastung, oder so ähnlich.
Wieso, warum und überhaupt… ich sollte von vorne anfangen!
Also, damals in Paraguay, als wir noch kleine Kinder waren, auch schon davor und auch danach, hatte jeder Kolonist seine Hühner.
Es gehörte dazu, wie Kühe, Schweine, Enten, Gänse, etc., etc.… außerdem, war alles nötig fürs Überleben! Auch die Eier!
Wir hatten immer so zwischen 100 und 150 vom besagten Federvieh. 
Dazu einen passenden Hühnerstall. Halb gemauert, halb Maschendraht und mit Schindeln bedacht.
Der Stall diente als Schutz für die Hühner und gleichzeitig als Legegelegenheit.
Schutz vor Wind und Wetter, aber auch vor Füchsen (Vierbeiner und Zweibeiner). Dann waren da auch noch die Beutelratten, die vampirisch gern das Blut eines Huhnes soffen.
Beutelratten sind Nachtaktiv und am Gegacker der Hühner, konnte man die Gefahr heraushören und bewaffnet zum Stall eilen. Mal haben wir gewonnen, mal die Blutsauger!
Waren es die letzteren, lag das Huhn am nächsten Morgen kreidebleich bis tief-Tod am Boden. Ein gesundes Huhn das so vom Tod überrascht wurde, war natürlich nicht essbar, aber wunderbar um eine Fuchsfalle auf zu stellen. Füchse mögen nur gesunde Tiere.
Das ein Huhn Eier legt ist ja allbekannt, genauso braucht es Futter. Es gab damals noch nicht „Fertigfutter zum kaufen“. Wir fütterten unsere Hühner hauptsächlich mit Mais, Maniok, Bohnen und Abfällen. Daher war es umso wichtiger, dass die Hühner freiem Lauf bekamen, um sich draußen einiges an Grünzeug und Insekten, für ihren notwendigen Vitaminen, Mineralien, etc.,  zu sammeln.
Was wiederrum einen Hagen hatte. Lies man alle Hühner früh morgens raus, legten mindestens 90% ihre Eier in selbstgefundene/gemachte Nester. Resultat; bevor wir die Eier finden konnten, taten es schon die Eidechsen, 
Füchse und andere Diebe.
Deshalb mussten alle Hühner (ca. ein Drittel), die an demselben Tag ein Ei legen würden, im Stall bleiben, bis sie es so gegen die Mittagszeit, ihr kleines Wunder vollbracht haben.
Nur… wie weiß man, welches Huhn ein Ei am gleichen Tag legt?
Ganz einfach… man fühlt sie!
Und so ging es; Der Hühnerstall war in drei Abteilungen geteilt. Ein großer Raum mit Hühnerleiter und Hühnerstangen zum schlafen. Einen mittelgroßen und langgezogenen Raum, in dem eine ganze Wand mit Kästen als Legenester bestückt war. 
Wir Kinder mussten immer dafür sorgen, dass auch genug weiches Laub und Stroh drin lag, 
damit die Eier nicht kaputtknacksten beim Aufprall.
Der dritte Raum war sehr klein und hatte eine Klappe zum Legeraum und eine nach draußen. Hier wurden bei Morgengrauen alle Hühner hineingetrieben mehr oder weniger aufeinander.
 Geschrei, Gegacker, Geflatter, Gestaube… bäää! 
HHL = Hühner High Life!
Die Aufgabe „Hühnerfühlen“ wurde hauptsächlich von uns Kindern ausgeführt. Am ärgsten betroffen war Manfredo und ich. Manchmal war auch Muttern oder Oma dran, und von uns Kindern zum fangen assistiert.
Die allerwenigsten der Angestellten wurden damit beauftragt.
 Sie haben sich schlicht geweigert.
Meistens haben wir zu zweit diese Arbeit erledigt; Zuerst wurden die Hähne gefangen und rausgeschmissen, denn die verursachten den größten Lärm und fühlten sich unheimlich wichtig. (Wie im richtigen Leben eben…) Dann fing einer ein Huhn und reichte es den „Hühnerfühler/in“, diese Person wiederrum packte das Huhn an den Pfoten, Kopf nach unten und klemmte gleichzeitig die Spitzen der Flügel mit in die Beine haltende Hand ein, um unnötiges Geflatter zu vermeiden. Mit dem freiem Zeigefinger der anderen Hand mussten wir im Hühnerpopo stechen, stießen wir gegen was Hartem, war das Huhn an diesem Tag schwanger, bzw. ein Ei war angesagt… stießen wir ins Weiche, 
war der Test negativ und es gab kein Ei…!
Im Grunde waren wir wir keine "Hühnerfühler", sondern eher "Höhlenforscher"!
Hin und wieder kam es auch vor, das „Etwas“ auf uns stieß, bevor wir Hand an legen Finger einlegen konnten…
Eeh… nix Gummihandschuhe, gab‘s doch nicht!
Anschließend wurden die Hühner durch eine Lücke ordnungsgemäß, 
entweder in die Freiheit geschickt oder im Legeraum.
Die Eier-Hühner mussten gezählt werden, so konnten wir ein paar Stunden später die Eier einsammeln und zählen… übereinstimmte die Zahl, durften die Hühner raus… war es noch nicht der Fall, mussten sie noch eine Weile bleiben, bis schließlich alle Eier gelegt waren.
Oft kam es dazu, dass nochmal alle Legehühner durchgefühlt wurden, um sie zum 2. Mal auszusortieren.
Tschja... Heut zu Tage jammern die Kinder und Jugendlichen, 
wenn sie mal den Müll rausbringen müssen…
Trotzdem, war es dann doch so schön, wenn wiedermal so zwanzig kleine Küken unter einer Glucke, aus ihren Eiern schlüpften.
Es war so aufregend wenn sich der Tag im Kalender näherte, der von unserer Mutter mit 5-6 Küken Köpfe gekennzeichnet wurde.
Genauso aufregend war die Erwartung, welche Farbe die kleinen Piepser wohl haben. Unser Hühnerbestand war aus alle möglichen Rassen zusammengemischt, was wiederrum für ein Buntes Kükennest und allgemeines Bild sorgte.
Als ich dann so 13-14 war und Muttern mit dem neuem Lei-Ei Cati zurück aufs Land zog, 
fingen die Eltern eine richtige Hühnerzucht an.
Sie kauften „fertige Küken“ in der Stadt… alle weiß und ganz ohne Glucke. Aber vor allem gab es „Balanceado“, Ausbalanciertes Fertighühnerfutter. Da mussten nur die 25Kg Säcke im Schuppen getragen werden.
Auch ein Huhn schlachten, gehörte zum Alltag. Schon als Kind habe ich es gelernt, aber nie getötet! Das konnte ich auch nicht. Das musste ein Anderer für mich erledigen. Aber, angefangen von Federn rupfen, Ausnehmen und zubereiten, machte ich allein. Es war auch kein Hexenwerk.
Dann eher schon das hypnotisieren, ja lacht nur… 
ich konnte und kann jedes Huhn hypnotisieren!
Und das am heller lichten Tag!
Jetzt könnt ihr natürlich behaupten, das Ganze sei ein Aprilscherz, dem ist aber nicht so! Aus diesem Grunde, habe ich auf den 2. April gewartet um diesen Post zu veröffentlichen. Zweitens, hier ist ein Foto mit ein von mir hypnotisiertem Huhn! Es liegt am Boden, Beine ausgestreckt, Augen offen und läuft nicht weg! Erst wenn ich es „freigebe“ oder wecke.

Na dann, frohe Osterzeit und liebe Grüße!

Donnerstag, 22. März 2012

Cati und Rosi

Eine „Criada“ zu haben, war und ist in Paraguay Gang und gebe. Übersetzt bedeutet es „Ziehkind“.
Oft ist es ein Patenkind, das vom Lande zur Patentante in einem Dorf oder Stadt zieht, beidseitig kostenlos, mit im Haushalt hilft und dort auch die Schule besucht.
Es kann aber auch ein völlig fremdes Kind sein, das z.B. aus armen Verhältnissen stammt und von den Eltern weggegeben wird.
Letzteres ist meistens auch sowas wie eine (sehr) billige Arbeitskraft. Ihr Gehalt besteht aus kostenloses Wohnen, Essen und das (allernötigste) an Kleidung.
Meistens noch sehr jung (5-7) Jahren, beginnen sie als kleine „Go-for“. Dieser Begriff stand aus dem Englischen und bedeutet: „go for this, go for hat…“ = „geh für dies, geh für das“…) Sie kleben an ihre „Ziehmütter“ und sind ständig bereit einen Befehl auszuführen. Ist die Ziehmutter mal unterwegs, helfen sie in der Küche, im Garten, beim Putzen, Wäschewaschen, eben alles!
Mir fällt in diesem Moment der Begriff „Lei-Ei“ als geeigneten ein. Ja genau… könnte bedeuten; „ein geliehenes Ei“… oder, nicht weniger unpassend; „Leibeigener Sklave“.
Auch wir hatten ein paar Lei-Eier.
Ganz, ganz früher hatten wir auch Dienstmädchen, Kindermädchen, Waschfrauen, regelmäßige Tagelöhner für die Feldarbeit und zusätzliche Tagelöhner für die Erntezeit.
Der Lohnsatz war sehr niedrig und man konnte es sich leisten. Bzw. war man dazu gezwungen, denn moderne Maschinen waren noch Scientfiction.
Dienstmädchen arbeiteten meistens von Montag bis Samstag und durften den Sonnabend und Sonntag zuhause verbringen. Arbeitszeit begann vor Tagesanbruch und endete nach dem die Küche vom Abendessen wieder glänzte. In der Mittagszeit gab es eine Siesta. Trotzdem war es ein begehrter Job.
Kindermädchen bekamen sehr wenig Lohn, sie mussten sich praktisch nur um das/die Kinder kümmern und wenn diese schliefen, deren Wäsche waschen und bügeln und helfen wo gerade Not war.
Lei-Eier ersetzten oft die Arbeit eines Dienstmädchens und Kindermädchen, mit dem Unterschied; „kein Recht und kein Lohn.“
Als ich 6 Jahre alt war, hatten wir die Veronika als Lei-Ei. Sie war nur zwei Jahre bei uns und eigentlich mehr aus dem Grund mir Gesellschaft zu leisten als die anderen o.g. Gründe. Veronika erhielt auch zusammen mit mir Privatunterricht und stammte aus Cambyretá, das Heimatdorf unserer Mutter. Sie war auch aus deutscher Herkunft. Eine kinderreiche Familie eben. 

Links Veronika, rechts bin ich.
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 Davon habe ich aber schon berichtet und außerdem geht es heute um Cati und Rosi.
1966 lebten wir noch in Villarrica. Meine Schwester war 17, verlobt und ihre Hochzeit war für den 21. September geplant.
Was noch geplant war… dass Schwester und Schwager nach der Hochzeit in dem Haus wohnen bleiben und Mutter wieder ganz nach Independencia zum Vater zieht.
Weiter war geplant… dass ich (13) nicht bei dem frisch vermählten Paar bleiben konnte und bis zum Schuljahrende bei meiner Nachbarsfreundin leben sollte.
Eigentlich sind Mutter und Schwester schon ein paar Monate vor der Hochzeit wieder aufs Land gezogen.
Doch bevor es soweit war, muss Mutter wohl ein wenig Bammel bekommen haben… ich kann es jetzt als erwachsener Mensch gut verstehen… nochmal zu dem Mann zurück von dem sie sich ja eigentlich (soweit es damals ihr Moralisches zuließ) getrennt hatte.
Mutter hatte vor nichts Angst und war eine Draufgängerin, um nicht zu sagen Streitsüchtige Person… trotzdem, kann ich mir gut vorstellen, dass sie große Angst vor dem Einsamkeit hatte. Klar war sie nicht allein, sie hatte dem Vater und die Schwiegereltern. Mit den Schwiegereltern verstand sie sich nicht so recht und der Mann meistens betrunken, dann ist man zwar nicht allein aber einsam.
Sie entschloss sich kurzerhand für ein Lei-Ei.
Noch in der Stadt, fragte sie dem Pfarrer, welche Damen aus der nahen Umgebung, sich bei der Beichte beklagten, nicht mehr alle hungrigen Mäuler stopfen zu können.
Der Paí musste nicht lange überlegen, er beschrieb ihr den Weg zu einer an Kindern reichen und an Verhältnissen sehr armen Familie die in einer Vorgägend lebte.
Diesen Tag werde ich nie vergessen. Die Bilder des Geschehens haben sich in meinem Gehirn eingebrannt.
An das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern. Aber es war an einem Sonntag im Juni, Winter und kalt. Die Sonne schien und wir (Mutter, Schwester, fast-Schwager, Bruder und ich) marschierten los das Lei-Ei zu holen.
Wir hatte keine Ahnung was wir bekommen. Wir hatten keinen Namen, Alter oder sonst irgendwas.
Es waren so ca. 6-7 Km zum gehen. Die Spannung stieg! Jeder gab seinem Senf dazu, wie sie wohl sein wird.
Dann kamen wir an. Ein Rancho, so eine kleine Strohdachbehausung in einer kleinen Weide die mit Stacheldraht eingezäunt war.
Weil es sonnig war, waren die Bewohner vor dem Haus. Eine Schwangere Frau mit einem Kleinkind auf der Hüfte haltend, kam uns am Zaun entgegen. Weitere Kinder sprangen herum. Die Frau fragte uns was wir wollen. Sie sprach nur sehr gebrochen spanisch und kauderwelschte uns in Guaraní an.
Unsere Mutter sagte; „Wir wollen ein Kind.“
Die Frau antwortete; „Ja, der Pfarrer hat mir schon Bescheid gesagt.“ Und auf ihren Bauch deutend; „Ich muss eins hergeben, denn ich werde ja noch mehr bekommen.“
Dann drehte sie sich zu den in der warmen Sonne spielende Kinder und rief; „Cati… ejú“.
Da sahen wir sie. Ich spüre heute noch, wie gerührt ich damals war.
Die kleine, ca. 6 jährige kam gerannt und schaute ihre Mutter mit großen und fragenden Augen an. Die Mutter hob den untersten Stacheldraht des Zaunes hoch und sagte zu ihrer Tochter nur; „Terehó“. Cati krabbelte unterm Zaum durch, nahm die Hand meiner Mutter und lief mit uns mit.
Die Mutter lief zurück zum Rancho, kein Abschied, keine Umarmung, keine liebe Worte für den neuen weg der Tochter… nix!
Cati schaute nicht zurück, sie trippelte einfach neben uns her, bis wir endlich Zuhause waren. Sie weinte nicht ihre Mutter nach, sie fragte nicht nach ihr… sie tat es nie!
Zuhause angekommen, wurde es auch schon dunkel.
Wir hatten nichts, aber auch gar nichts vorbereitet. Wir wussten nicht einmal, dass wir mit einem Kind zurückkommen.
Das kleine Lei-Ei hatte nur ein dünnes dreckiges Baumwollkleidchen an. Es wurde kalt, sie hatte nicht einmal ein Jäckchen mit. Sie hatte überhaupt nichts. Auch keine Geburtsurkunde, wirklich nichts.
Wir haben als erstes Töpfe und Kessel mit Wasser auf dem Herd gestellt und die große Blechwanne, die zum Wäschewaschen diente, in die Küche geholt und den Zwerg erst gründlich geschrubbt. Sie war sehr zierlich und sah eher wie fünf aus… keine Ahnung wie alt sie wirklich war.
Wir glucksten alle um sie herum und jeder wollte ihr was Gutes tun.
Glücklicherweise, hatte der fast-Schwager ein paar gebrauchte Kinderklamotten gehabt, die er mal von Frankreich mitgebracht hatte. So bekam Cati noch an diesem Abend eine schwarze Skistretchhose mit Unterfußsteg und einen Pulli. Schon am nächsten Tag machte sich unsere Mutter dran, ihr fix ein paar Kleidchen und ein paar Unterhöschen zu nähen.
So gehörte Cati, von jetzt auf sofort, zu uns. Am Anfang spielte noch der fast-Schwager den Dolmetscher für das nur Guaraní sprechende Lei-Ei, doch Cati lernte sehr schnell Deutsch. Genau wie wir sagte sie vom ersten Tag an „Mutti“ zur Mutter.
Mutter hatte ihr Lei-Ei und zog zurück aufs Land. Da ich in der Stadt blieb, hatte ich wenig mitbekommen, wie Cati sich bei uns einlebte. Doch sie machte sich prächtig, war meiner Mutter nicht nur eine gute Begleiterin, auch eine große Hilfe im Haushalt.
Cati lernte alles, was auf dem Land zur Tagesordnung gehörte. 
Das ist wohl das einzige Foto, dass ich von Cati habe.
Oben links; Onkel Arwed und Tante Sofía
Sitzend von links; Oma Pretzel, Oma Dreyer und dahinter mit Lockenwickler unsere Mutter.
Die Kleine mit dem Lockenkopf in der Mitte ist Cati.
Unser Vater mit Pfeife, Cousine Dora aus Argentinien, Rosi und meine Schwester Jule.
Unten links; Bruder Manfredo, liegend mit Kuhschädel am Po ist Bruder Norberto.
Ich liege auf dem Rücken und zeige meine Beine. Auf meinem Schoß sitz meine Nichte Karin.
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 Eineinhalb Jahr später, glaubte ich lange genug die Schule besucht zu haben und entschied zurück nach Independencia zu gehen.
Ich lebte ein Jahr Zuhause und Cati war wie eine kleine Schwester für mich. Ich beteiligte mich voll an alle anfallenden Arbeiten, auch bei dem was man ausschließlich „Männerarbeit“ nennt. Ich half meinem Vater in der Landwirtschaft und Cati half wiederum mich.
Mein Traum war aus, als mein Bruder Manfredo kam und sagte, dass die Zeiten ohne Schulausbildung und auf eine gute Partie warten nicht mehr in sein und ich ohne Wiederrede zurück zur Schule soll.
Er besorgte mir ein kostenloses Schuljahrstubendium in der teuren Goethe Schule in Asunción. Der große Bruder Norberto war mit der Tochter ein österreichingen Ehepaares liiert, dort durfte ich wohnen… und schwupp… ich wurde auch zu sowas wie ein Lei-Ei! Was eine ganz andere Geschichte ist, nur so viel; nach dem ich ca. eineinhalb bis zwei Jahren dort lebte, war mein großer Bruder nicht mehr mit der Tochter des Hauses liiert, sondern mit einer jungen Dame, dessen Familie in San Pedro lebte. Das liegt ca. 500km nördlich von Asunción, in Ost-Paraguay.
Eines Tages sagte er mir, er habe einen Auftrag den ich für ihn auszufüllen habe. (Sowas kam öfters vor und ich gehorchte!) Ich sollte ein Indianermädchen, ca. 14 Jahre, das er von San Pedro bis Asunción bringt, mit dem Bus nach Independencia, raus zu unseren Eltern bringen. Er meinte; das Mädel wäre als Baby von den Indianern bei der Familie seiner Freundin abgegeben worden, doch die Familie kommt jetzt nicht mehr mit ihr klar, weil sie so stur ist.
Norberto meinte, wenn jemand mit ihr klar kommt, dann unsere Mutter. Ich hatte Angst. Damals wusste ich nichts über Indianer, nur das Falsche eben. 
Rosi beim Wäschewaschen.
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 Lei-Ei Nr. 2 hieß Rosi und ihrem Ruf „schwierig“ zu sein, machte sie alle Ehre.
Rosi war das Gegenstück von Cati. Sie war nicht groß und auch nicht dick… aber sie war weiß Gott, stämmig! Nicht nur ihr Äußerliches, auch ihr Wesen, trug dazu bei, dass der Boden unter ihrem Gang leicht bebte.
Cati war die übertrieben kurze Leine Mutter gewöhnt… sie kannte eigentlich auch nichts Anderes. Rosi bekam unsere Mutter mit der Methode „sehr kurze Leine“ einigermaßen im Griff. Auf dem Lande war es noch möglich.
Was ich unter „sehr kurze Leine“ verstehe; absolut keinen Alleingang! Keine eigenen und gleichaltrigen Freunde! Sie durften nur mit, wenn Muttern zu „ihren“ Freunden ging. Niemals alleine einkaufen oder Besorgungen erledigen!
Sonntags nachmittags durften die Lei-Eier mit zum Sportplatz, wenn meine Mutter dabei war. Dann aber auch nur unter strengster Aufsicht und immer in Sichtweite!

Rosi beim Maniok holen.
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 Die sehr kurze Leine, war so kurz, sie reichte nicht einmal zur Schule. Einmal weil die Schule ca. 6Km entfernt war. Die Lei-Eier hätten dort hin reiten müssen… = Mutter hätte sie nicht unter Kontrolle. Fast genauso schlimm als „wer macht die Arbeit?“
Rosi brachte ein wenig schreib und lese Kenntnisse vom ersten Lei-Zuhause, Cati blieb ohne dieses Wissen zu erlangen.
Muttern wollte es immer selbst tun, doch sie hatte selbst nicht viel Schulbildung. Zwar las Mutter sehr viel. Sie konnte einen 15Pf. Roman in einer Siesta auslesen, aber sie las auch sehr viele Bücher. Mit dem Schreiben hatte sie so gut wie keine Übung. Nur Unterschriften und wenn sie mal unbedingt was aufschreiben musste, dann tat sie es sehr langsam.
Rosi und John beim Lagerfeuer.
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 Ca. ein Jahr nachdem Rosi schon bei uns war und ich schon fast drei Jahre Hauptstadt und Schule hatte, entschloss ich zum 2. Mal, es mit der Schule nicht weiter zu übertreiben und folgte den Ruf meines Herzens, wieder nachhause auf Land!
Meine Freundin Musch und ich, wir haben uns die gleichen Hüte und Shorts genäht.
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 So hatte unsere Mutter plötzlich wieder drei Mädels im Haus.
Musch und ich auf dem Weg zum Sportplatz.
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 Ich kann mir schon vorstellen, dass Muttern damals kleine Panik Attacken bekam. Heute als …na ja, erfahrene ältere Dame… kann ich nur sagen; recht so… oder, selber schuld. Alles zu verbieten ist bestimmt nicht die beste Alternative zu „Nicht Aufklären“.
Ich war inzwischen 18 und sie konnte mir nicht mehr alles verbieten. Ich durfte mit meiner Freundin Sonntagnachmittag alleine zum Sportplatz reiten um Tischtennis zu spielen! Ich durfte alleine zum einkaufen reiten! Ich durfte mittwochs mit meiner Freundin zur Post reiten! Allerdings muss ich dazu sagen; zu meiner eigenen Sicherheit, musste ich immer vor Sonnenuntergang Zuhause sein.
Ach ja, ich vergaß… die Alternative zu „nicht Aufklären“, aber trotzdem nicht die vollkomme Kontrolle zu verlieren, regelte Muttern auf eine andere schlaue Art. Kaum war ich aus der Stadt zurück und bezog wieder mein altes Schlafzimmer, bestellte Mutter einen Tagelöhner und ließ 1,20mtr parallel zur Hauswand, an der Seite meines und dem Fenster der Lei-Eier eine 70 Zentimeter hohe Mauer aufziehen. Anschließen wurde das Ganze mit Erde gefüllt und hunderten von den stacheligsten Kakteen gepflanzt! 
Jesus, Maria und Joseph… sie war richtig Paranoia ich könnte nächtlichen Spaß in meinem Zimmer hereinlassen! Aber glaubt mir, nach kürzester Zeit war das Kakteenbeet so was von zugewachsen… oder, soll ich sagen zugedornt… da hätte sich nicht einmal ein Zirkuskünstler mehr getraut bei mir zu fensterln, um Angst sein Allerheiligstes voller schmerzenden Stacheln zu besticken.
Dazu kam noch, dass ich eh ein totaler Spätzünder in dieser Hinsicht war. Ok, Verliebtheit und Schwärmerei für angesagten und gutaussehenden Popstars und Kinohelden gab es in meiner Phantasie. Dementsprechend tapezierte ich auch alle vier Wände meines Zimmers, dessen Kalkfarbe langsam abbröckelte. mit Ausschnitten aus allen Zeitschriften und abgelegte Magazine die ich in den Händen bekam und zwar von der Decke bis zum Boden, ohne einen einzigen freien Zentimeter.
Meine Eltern fanden es Lustig und ließen mir machen… die Typen an der Wand waren eh alle unerreichbar und würden niemals auch nur bis zu den Kakteen kommen.
Mein Vater ließ das trinken nicht, Mutter ließ das Zanken nicht, so hatte ich mein kleines Reich und konnte mich drin zurückziehen und mein liebstes Hobby nachgehen; das Träumen!
Rosi und Oma Pretzel. An der Wand das frisch angelegte Kakteenbeet!
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 Nachdem ich fast einem Jahr daheim lebte, mieteten Bekannte von uns die leer stehende Kellerei zum Schnapsbrennen. Es sollte nur eine Übergangsphase sein, solange eine neue Schnapsbrennerei auf eigenen Grund gebaut wurde.
Plötzlich war Leben um unser Haus. Tag und Nacht brummte es und ständig kam oder ging Jemand vorbei.
Auch Strom hatten wir durch die Brennerei. Na ja, es war vorübergehend und wir kauften auch keine Elektrogeräte, aber wir hatten Licht!
Für mich schimmerte noch ein weiteres kleines Licht, der jüngste Bruder der Brennereieigentümer kam ständig zum Arbeiten und wie ich mit Herzklopfen bemerkte, auch um mich zu sehen.
So kam es immer häufiger vor, dass ich noch mehr versuchte, mich draußen zu beschäftigen. Hofkehren, Müllwegbringen, sehr langsam mein Pferd sattelte, die Tiere versorgte, etc.
Ich war inzwischen 19 und fand immer größer Gefallen an dieser neuen und vor allem reellen Art von Herzklopfen.
Doch lange bevor ich mich ernste Gedanken um einen Weg über den Kakteen machte, bemerkte es der Anstandsfuchs „Mutter“!
Wie praktisch sie, dass wiedermal der rettende große Bruder mit seiner Botschaft; „ich fliege nach Deutschland“ urplötzlich vor der Tür stand.
Hinter meinen Rücken wurde ausgemacht; die Ela muss von diesen Hallodri weg! (Übrigens, das war er nie und ist es bis heute nicht.)
Ruck-zuck hatte ich einen Pass und fünf Wochen später saß ich heulend im Flieger!
Unser alter Weinkeller.
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 Zurück zu den Lei-Eiern.
In der Brennerei brannte nicht nur Schnaps, auch in den Hosen der Arbeiter brannte es. Anscheinend auch nicht minder bei Lei-Ei Cati und Lei-Ei Rosi.
Ab hier berichte ich nach Erzählen meiner Mutter.
Mutter vertraute auf das Kakteenbeet und ihrem scharfen Sinn… doch ihr kennt das Sprichwort; wo ein Wille, da steht kein Kaktus im Weg… oder so ähnlich.
Doch dann entdeckte sie die herumliegenden, abgebrochenen stacheligen Soldaten und einen ausgetrampelten kleinen Weg!
Cati kann zu dem Zeitpunkt nicht älter als 13 gewesen sein. Dort geltet das aber schon zum geschlechtsreifen Alter mit allen Konsequenzen wie Kinderkriegen und so.
Anscheinend schlug es bei Muttern 13! Sie schäumte vor Wut, meinte auch schon einen ordentlichen Bauch bei Cati zu erkennen und noch am selben Tag, nein… im selben Moment, befahl sie Lei-Ei Cati ihre Sachen zu packen und Vater das Auto vorzufahren. (Vater hatte kurz davor sein allererstes Auto erworben, eine Ente). Muttern, Cati und Vater fuhren zum Rancho in der Stad, wo wir Cati sechs Jahre vorher an einen Sonntagnachmittag abholten.
Sie sprach kein Wort mehr mit Cati, bzw. erlaubte Cati nicht mehr etwas zu sagen. Cati musste austeigen und gönnte ihr nicht einmal ein Abschiedswort. Unwissend, ob die ehemalige Familie der kleinen dort noch lebe, befahl sie Vater weiterzufahren.
Das war das Ende von Cati.
Erst lange später, als ich im Urlaub in Paraguay war erfuhr ich die Geschichte. Ich weiß bis heute noch nicht was ich sagen soll. Ich schreibe darüber, weil in mir eine Wut brennt.
Das Thema war für Muttern durch und basta! Nichts, aber auch gar nichts, hätte sie umstimmen können.
Rosi konnte sie nicht fortbringen, wohin auch! Doch die Leine wurde noch strammer für sie angezogen.
Rosi war ein Dickschädel und konnte einem zur Weißglut reizen. Sie war ein Arbeitstier und erledigte am liebsten schwere Männerarbeit. Sie war sehr hilfsbereit und loyal, besonders deshalb wird ihr die Erfahrung mit Cati ganz schön an den Nieren gegangen zu sein.
Sie rebellierte (sicher mit Recht) immer ärger gegen Muttern. Die wiederum konnte nicht ertragen die Kontrolle zu verlieren, also wurde beschlossen; auch Rosi muss weg!
Sie brachte Rosi zu meiner Schwester, die inzwischen auch zwei Kinder hatte und in Asunción lebte.
Vorher brauchte Rosi Papiere.
Sie entwickelte sich immer mehr zum Mann, verhielt sich auch so und trug nur Männer Hemden, Hosen, Schuhe und alles was dazu gehörte bis hin zum Haarschnitt.
Da in Paraguay Militärpflicht herrscht, kann ein junger Mann in der Stadt unmöglich ohne „Baja“ (Ausweis für absolviertes Militär) herumlaufen. Rosi sah nun mal wie ein Mann aus!
Erst ging mein Vater zum Einwohnermeldeamt und besorgte eine Geburtsurkunde. Bis dahin alles leicht. Rosi entschied sich für den Namen „Rosalía Colmán“. Ihren Geburtstag feierten wir am 30 August, das genaue Geburtsjahr war nicht ganz klar.
Vater machte sie (wahrscheinlich durch Alkoholeinfluss) ein wenig jünger… oder, war‘s älter?... aber, er kam mit einer Geburtsurkunde zurück.
Der nächste Schritt, war zur Stadt zu fahren und den Ausweis zu beantragen. Da ging die Schererei los. Der zuständige Beamte der das Ausweisfoto machen sollte, sagte zu ihr; „für den Personalausweis ist Krawattenpflicht“ und hielt ihr eine Krawatte hin. Nicht nur Rosi‘s dunkle Haut, auch das Weiße ihrer Augen lief hoch Rot an… er wollte nicht glauben, dass Rosi eine Frau ist.
Sie musste mit einer Polizistin zur Geschlechtserkennung in einer Kabine… das war für Rosi mehr als eine doppelte Folter. Sich entblößt zu zeigen, war für sie so ziemlich das Letzte lange nach dem Allerletzten.
Aber da musste sie durch, schließlich wollte sie immer wie ein Kerl aussehen. Erst dann durfte sie als Frau und gerechter maßen ohne Krawatte für den Ausweis abgelichtet werden.
Rosi bekam ihren Ausweis und Muttern sie los.
Auch bei meiner Schwester war Rosi eine gute Hilfe. Zwar war die Arbeit lange nicht mehr mit der Arbeit auf dem Land zu vergleichen. Hinzukam, dass meine Schwester ihr ganz andere Privilegien einräumten.
Sie durfte endlich ein wenig über sich selbst bestimmen. Doch ob das mal so gut war? Bald fingen die Probleme an.
Höhepunkt war der Tag, als eine Mutter mit ihrer weinende Tochter am Gartentor meiner Schwester stand. Als diese sie nach ihrem Belangen fragte, sagte die Mutter der weinenden Tochter, dass sie zu „Rogelio“ wolle. Darauf erklärte meine Schwester, dass bei ihr kein Rogelio wohne. Die Dame ließ aber nicht locker und dummerweise kam zufällig Rosi aus dem Haus. Da schrien beide Weiber; „da ist er doch!“
Herausgestellt hat sich, dass Lei-Ei Rosi inzwischen auch Mann sein wollte und mit dem Mädel was angebändelt hat. Nicht nur das, sondern gleich das ganze Programm! Sie hat sich mit ihr verlobt und die Ehe versprochen!
Jetzt kam Schwesterchen nicht mehr mit ihr klar und Lei-Ei Rosi wurde wieder zur Lei-Mama gebracht.
Inzwischen war die neue Schnapsbrennerei fertig. Bei meinen Eltern auf dem Lande kehrte die Ruhe zurück und die Elektrizität weg.
Mit Rosi wurde sowas wie einen mündlichen Vertrag ausgemacht, sie bekam ein Gehalt und alles war wieder beim altem.
Muttern hatte außer meinem Vater, wieder eine weitere Person zum streiten, aber vor allem eine gute Gesellschaft und Hilfe.
Mit Rosi werden noch weitere Geschichten folgen, aber alles zu seiner Zeit.
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Viele liebe Grüße!

Dienstag, 8. November 2011

Gift für Körper und Seele

Dieses Kapitel zu schreiben wird bestimmt nicht einfach und doch verspüre ich einen sehr starken Drang es tun. Ich werde dem Gefühl nicht los, hier im Blog nicht weiter schreiben zu können, wenn ich gewisse Ereignisse, nein… sagen wir, fast zum Alltag gehörende Tatsachen der damaligen Zeit, einfach überspringe.
Auch muss ich damit rechnen, dass nicht jeder meine Meinung teilt. Bedenkt aber, ich will niemanden hiermit wehtun und ganz besonders nicht Negatives über Menschen schreiben, die schon lange nicht mehr unter uns weilen und somit, sich nicht dazu äußern, bzw. sich verteidigen können.
Gut möglich ist trotzdem, dass gerade diese Menschen, die mir mal sehr viel bedeuteten und schon sehr lange verstorben sind, heute auch eine ganz andere Ansicht hätten. Aus ihre eigene Erfahrung gelernt haben. Vielleicht sogar ein wenig stolz und glücklich darüber sind, dass ich heute schreibe, was damals Körper und Seele zerfraß und vor allem tabu war.
Ich rede von meine Eltern und das Alkoholproblem meines Vaters.
Jeder wusste es, doch trotzdem wurde verheimlicht, gelogen und betrogen. Doch am allerschlimmsten war die ständige Angst und Alarmbereitschaft, die in mir ein innerliches Zittern auslöste. Angst, Machtlosigkeit und  Schuldgefühle machten mich immer sehr traurig. Um das wiederrum schön zu vertuschen, entwickelte ich eine etwas vorlaute große Klappe. Damals war mir das aber nicht bewusst, ich tat es instinktiv, vielleicht Schutz…?
Warum eigentlich so viel Angst? Es war der ständige Streit zwischen meine Eltern. Doch nicht nur zwischen ihnen gab es Streit. Alkohol Konsum bedeutete (fast) immer Streit! Es gab keine Feier, egal ob Geburtstag, Weihnachten oder Ostern, an der kein Streit ausbrach. Es gab keine Feier auf der wir eingeladen waren, die nicht im Streit endete. Verständlicherweise wurden wir immer weniger eingeladen, was auch nicht so einfach war, denn man kannte sich im Ort und die Feiern wurden meist mit Anwesenheit der gesamten Gemeinde ausgeübt.
Auch, einfach nur die üblichen Sonntage am Sportverein, waren meistens Anlass zum saufen und raufen. Es genügte auch einen Besuch im Tante Emma Laden oder zum Feierabend nach getaner Arbeit.
Vom Peinlichen mal ganz zu schweigen. Es war ja auch ein gefundenes Fressen für die heranwachsenden männlichen Teenager, die damals auch nichts Besseres zu tun hatten, bzw. keinen anderen Treffpunkt hatten als der Tante Emma Laden. Da war ein Betrunkener ein gefundenes Fressen, um ihre Macht und selbstgeglaubte Schlauheit zu messen und zur Schau zu stellen.
Schon als Kind begleitete ich gerne meinen Vater. Manchmal ertappte ich mich dabei, seine Beschützerin sein zu glauben. Aus diesem Grund wurde automatisch auch ich als ein verbales Angriffsziel gesehen. Die übliche Stänkerei und bestimmt nicht böse gemeint, durch meine schnellen und gespitzten Antworten, glaubte jeder es macht mir nichts aus und habe noch zusätzlich einen Heiden Spaß dabei. So war dem aber bei weitem nicht. Ich zitterte innerlich und war den Tränen nah, doch ich zeigte es nicht. Anzumuten, dass es der Beginn war (leider bis heute noch) zu glauben, ich sei eine starke Person.
Tante Emma Läden waren rundum Geschäfte. Man bekam dort alles was es gab… oder was man glaubte das es gab. Ein langgezogener Raum, eine genau so lange Theke. Unter der Theke standen Säcke mit Mehl, Zucker, Salz, etc. dahinter ein Regal mit dem Nötigsten. Vom Kaffee bis zum Buschmesser. Stoffe, Schuhe, Puder, Lippenstift und Seife. Angeschlossen war ein Lager für Vorrat und Sperrgut, sowie ein Fass mit Kerosin für unsere Lampen, usw., usw.
Vor der Theke an der Wand standen Säcke mit Bohnen, Mais, Yerba und Maniok, die gleichzeitig als Barhocker dienten. Körbe mit Bananen und Eier. Auf der Theke, ganz an der Wand, stand ein kleines Regal. Anstatt Glasscheiben waren die Seiten aus Fliegengitter. Drin stand Gebackenes, Käse oder meine über alles geliebten „Mantecados“. Übersetzt sollte es „Butterkeks“ heißen, doch die Teile wurden aus Schweineschmalz, Mehl und Zucker von Einheimischen hergestellt.
Der damalige Schnaps war aus billiger Herstellung und billig zu haben. So stand so manch einer am Tresen und trank sich die Seele aus dem Körper.
An dieser Stelle, möchte ich klar stellen, dass mein Vater damals und dort nicht der einzige Alkoholiker war, es gab Viele. Wir teilten mit sehr vielen Menschen unser Schicksal, doch hier geht es nur um unsere Familie. Der familiäre Umgang der Alkoholiker war auch sehr unterschiedlich. Es gab Ehefrauen, die haben ihren Mann immer wieder hochgeholfen wenn dieser am Boden fast bewusstlos betrunken lag,  Andere ließen ihren Mann liegen bis die eigene Ernüchterung es ihn wieder erlaubte.
Was in einem vorgeht und wie damit umgegangen wird, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es gibt starke und schwache Menschen. Oder auch die, die es sich nicht anmerken lassen. Doch eines ist sicher; es frisst die Seele!
Früher konnte ich es nicht verstehen, doch heute weiss ich, es ist auch ein Unterschied wie man damit als angehörige umgeht. Als Tochter liebt man einen Vater ganz anders als eine Ehefrau. Als Tochter akzeptiert man viel mehr, die Wurzeln der Liebe bestehen schon durch die Geburt. Erst viel später, stößt man auf die eigentlichen Scherben des Schicksals.
Viele Menschen sagen heute noch; mein Vater hätte nicht so viel getrunken wenn meine Mutter nicht so hart gewesen wäre. Andere sagen; meine Mutter wäre nicht so hart gewesen, wenn mein Vater nicht so viel getrunken hätte. Menschen die mich gut kennen, wissen, dass ich Sätze mit wäre, hätte, könnte, würde, absolut hasse und immer versuche sie zu vermeiden. Es war so und Punkt aus! Man kann immer aus seinen Fehlern lernen und es bei nächster Gelegenheit besser machen.
Als Kind hat man keine Wahl und ist gezwungen sich anzupassen. Es ist auch unterschiedlich was es letztendlich auslöst und welche Spuren es hinterlässt. So schreibe ich heute nur über mich und lasse meine Geschwister gefühlsbedingt raus.
Ich hatte damals die Kraft… und ja verflucht, ich habe sie mir genommen und versuchte es Beidem recht zu machen. Ich war zwar immer mehr das Papa-Kind, das wiederum trug zu weiteren Problemen bei. Später gab es auch das eine oder andere Mal, da mischte ich mich ein und versuchte zu schlichten. Auch wurde ich mehrmals dazu, nicht direkt gezwungen aber ungerechter weise dazu erpresst es tun, nur um Jahre später als Schuldige dieses verfluchten Elends niedergemacht zu werden.
Schon früh lernte ich eine Sonderantenne in Alarmbereitschaft zu halten. Es war immer sowas wie auf „Eierschalen zu laufen“.
Natürlich gab es auch Situationen, die uns später zum Lachen brachten. Andere Erinnerungen lösen auch noch nach vielen Jahren Schmerz aus.
Ich erinnere mich, wir waren noch kleine Kinder und machten uns über dem (vom Vater versteckten, und von uns gefundenen) Wein aus Papas Damajuana (eine in Korb geflochtenen 5ltr Flasche) her, damit er nicht mehr zu viel trinkt. Am Ende hatten wir alle einen in der Krone.
Immer wieder traf ich auf seine geheimen Verstecke. Nicht das ich suchte, doch ich bin davon überzeugt, als Angehörige wird man für dumm gehalten. Und das vermeintliche Spiel wird mitgespielt… vielleicht um den vorgetäuschten Frieden weiter vorzutäuschen…? Oder aus Respekt…? Nur, was ist das für ein Respekt? Wie auch immer, es geschieht und das Herz klopft.
Zurück zum 3. Juli 1963, wiedermal stand eine Feier vor der Tür; Die Goldene Hochzeit der Großeltern väterlicher Seite. Ein besonderer Anlas begonnen als Familienfeier und im Chaos endend. Erinnerungen an diesem Tag und seine Nacht, sind heute noch so klar und präsent wie vor fast fünfzig Jahren.
Zu der Zeit lebten wir schon dreieinhalb Jahre mit unserer Mutter in der nahe liegende Stadt. Offiziell um dort die Schule zu besuchen. Inoffiziell gingen sich unsere Eltern an fünf Tagen der Woche, sich und ihrem ewigen Streit aus dem Weg. Vielleicht war es auch nur um wieder tief und voll Kraft zu schöpfen, und für neue Streite am  Wochenenden fit zu sein.
Der Vater lebte die Woche unter in der Kolonie und wenn irgendwie möglich, traf er mit dem Bus am Freitag oder Samstag ein und blieb bis Montag. Wir waren finanziell von seinem Kommen abhängig. Doch es gab Wochenendtage, da war seine Trunkenheit sein einziges Mitbringsel. Oft und besonders bei schlechtem Wetter, ist die 37Km Busreise zu einem zwei Tage Trip geworden. Es gab noch keinen Asphalt und die matschige Straße wurde unterwegs an zwei Stellen polizeilich gesperrt. Da ging nichts mehr vor, weder zurück. Clevere Kleingeschäftsleute bauten genau dort einen kleinen Kiosk und boten in erster Linie alkoholische Getränke an.
Ach war das immer eine scheiß Situation. Irgendwie war ich glücklich darüber, dass mein Vater kommt. Doch um zu näher der Tag rückte, umso beängstigend wurde es auch.
Ich will nicht sagen, dass ich als Kind verkrampft und mit Herzklopfen bis zum Hals, mehr unters Bett als entspannt und Kinderglücklich auf meinem Bett lag, doch es kam schon recht oft vor.
Das Familienfoto der Goldenen Hochzeit, am frühen Nachmittag, als die Welt noch in Ordnung schien. Aufgenommen von einem Gast, der von Beruf selbsternannter Besserwisser und Fotograph war. 


Unsere Mutter mit uns vier Kinder, Eine Haushaltshilfe (die brauchten wir zu der Zeit, denn meine Mutter hatte 3-5 Jungs die vom Lande stammten, die bei uns unter der Woche wohnten und zur Schule gingen.), der offizielle Freund der Haushaltshilfe, der zu der Zeit gleichzeitig schon der inoffizielle Freund von meiner Schwester war, sind für diesen Tag raus aufs Land zu Großeltern und Vater.
Es war keine große Feier. Ein paar Nachbarn und ein paar Freunden waren am Nachmittag auf Kaffee und Kuchen eingeladen. Die mussten alle eine nicht zu kurze Strecke zu Pferde zurücklegen, daher auch unmöglich und gefährlich, erst bei Dunkelheit zu reiten.
Als der Abend anbrach, steigerte sich der Promilleanteil in Vaters und Großvaters Blut. Der Wortwechsel wurde auch immer lauter. Zwei betrunkene Dickschädel gerieten immer heftiger einander. Jeder, der einen Versuch wagte zu schlichten, viel schuldlos mit ins Gefecht und wurde aufs ärgste niedergemacht.
Endlich war es möglich, die zwei Obermachos auseinander zu bekommen und wir gingen alle in unserem Haus. Wir gingen ins Bett, es herrschte kurz Ruhe, dann ging der Spaß erst richtig los. Mein Vater beschimpfte und beschuldigte zuerst meine Mutter, dass sie was mit dem offiziellen Freund der holden Magd und inoffizielle Freund meiner Schwester hat. Gott sei Dank wusste er nicht, dass er eigentlich schon der Freund von meiner zu der Zeit 14 Jähriger Schwester war, er hätte ihn mit Sicherheit erschossen. Trotzdem, er fuchtelte nicht nur mit seiner Waffe, es viel auch ein Schuss. Ich kann nicht sagen, ob Vater auf Jemanden gezielt hatte und sein Ziel nur verfehlt hat, oder ob es einfach nur so wie eben seine Art war tat, quer in die Luft zu schießen um seine Macht bei Trunkenheit zu unterstreichen. Es war dunkel und ich konnte nur vorbeihuschende Gestalten und Taschenlampenstrahlen wahrnehmen. Außerdem war mein Logenplatz wiedermal unterm Bett. Unser großer Bruder (18) mischte sich zu dem Zeitpunkt ein. Nahm unserem Vater seine Waffe weg und versuchte zu schlichten.
Ich höre Papa heute noch schreien; „Dame mi arma, carajo… dame mir arma, carajo“ (gib mir meine Waffe, Karacho). Um eventuellen Unheil zu vermeiden, gab mein Bruder nicht nach. Als Strafe verlangte Vater den Motorradschlüssel von der alten Maschine die eigentlich mein Bruder gehörte. Trotz Trunkenheit, wusste aber unser Vater, dass mein Bruder keinen Schlüssel braucht um irgendein Motorrad zu fahren. Er verlangte von seinen damals noch nicht offiziellen zukünftigen Schwiegersohn, dass er ein Teil von der Maschine entfernt, damit mit Sicherheit nicht damit gefahren wird. Welch eine sinnlose und sture Strafe, er selbst konnte eh nichts mit der alten Mühle anfangen!
Es war gegen Mitternacht, der Streit nahm kein Ende. Im Halbdunkeln packte Mutter unsere Sachen zusammen und wir Kinder, Mutter und holde Magd, verließen das Haus. Mutter meinte für immer.
Mein großer Bruder und mein inoffizieller zukünftiger Schwager blieben beim wütenden Vater. Heute erinnert mir die damalige Situation ein wenig an der Geschichte vom Bauern, der in seinem Boot eine Ziege, einen Kohlkopf und einen Wolf über den Fluss bringen soll, kann aber immer nur eines mitnehmen. Die Frage ist in welcher Reihenfolge kann er es tun, damit der Wolf nicht das Schaf und Schaf nicht den Kohl frisst?
Wären die Beide mit uns gegangen, hätte mein Vater noch mehr Eifersuchtsphantasien gesponnen. Wäre der große Bruder mit uns und der Mann bei meinen Vater geblieben… ja genau, da hätte der Wolf womöglich das Schaf gefressen.
Der Bus kam aber erst ca. 05:30 an der Hauptstraße vorbei. Wir sind trotzdem mitten in der Nacht die 420Mtr bis zur Straße runter und versteckten uns im gegenüberliegenden Wald. Es war meine erste Nacht unterm freien Himmel. Wir Kinder versuchten ein wenig zu schlafen… ich weiss nicht, ob und wer geschlafen hat.
Zum Glück regnete es in der Nacht nicht. Nicht wegen schlafen im Wald, sondern wegen den bei Regen gesperrten Straßen. So kamen wir müde, verängstigt und ein wenig durchgefroren (Juli ist bei uns Winter) am nächsten Morgen in Villarrica an.
Ein wenig später kam mein Bruder auf sein Motorrad nach. Wie immer; hinterher tat es meinen Vater so sehr leid!
Ich frag mich, trotz Alkoholvernebelung, muss ein Mensch doch wissen wie sehr er einem weh tut, oder? Worte können so weh tun und sind im Bruchteil einer Sekunde gesagt, doch schmerzen können sie ein ganzes Leben. Was nützt da ein „tut mir leid“ wenn sich nichts ändert? So war es auch bei uns. Ich brauchte viele Jahre um zu verstehen, warum meine Mutter zu ihren eigenen Schutz sich immer mehr von meinen Vater abwand. Es war die einzige Möglichkeit, sich selbst von den vielen Endtäuschungen zu schützen.
Da ich einen guten Draht zu Papa hatte, versprach er mir auch immer wieder sich zu ändern. Mein Herz flippte vor Freude fast aus der Hülle, später tat jedes Versprechen nur noch weh.
Nach ein paar Tagen kam mein Vater total nüchtern und voller Reue wieder. Meine Eltern unterhielten sich lange, es ging wieder eine Weile gut… wie gesagt; eine Weile.
Ich erinnere mich als meine Mutter zu mir sagte; „diesmal hat er es ganz fest versprochen“. Vielleicht sagte sie es zu mir, um sich selbst zu überzeugen. Als Kind achtete ich nicht auf den beiliegenden Ton ihrer Worte.
Es war eine andere Zeit. Alkohol Missbrauch war damals auch keine Krankheit. Es war nicht nur eine Schande, es war auch eine Schwäche und Schwache mussten sich irgendwie auf eine andere Art stark zeigen, oder sie wurden vernichtet.
Am Ende bleiben Erinnerungen, die ein paarmal zu oft an der Seele geknappert haben.
Liebe Grüße!

Mittwoch, 6. April 2011

Der (aber)Glaube

Diesen Virus trinkt man schon mit der Muttermilch, was auch ganz normal ist, vorausgesetzt man wächst in Paraguay auf.
Eng verwandt mit den Mythen und Legenden, die Religion, ganz besonders mit den Heilpraktiken oder, berühmt und von dem Menschen dieses Landes im alltäglichen Gebrauch, der „Pajé“. Ein wenig mit Voodoo vergleichbar ist.
All das ist irgendwie eigenständig und doch gehört es zusammen wie Nudeln mit Soße. In jedem Haushalt oder Familie steht es hin und wieder auf den Speisezettel. Jeder hat schon irgendwann direkt oder indirekt davon gegessen und in jeder Vorratskammer steht zumindest eine Zutat bereit um vorbereitet, gekocht, serviert und gegessen zu werden. Selbstverständlich mit viel Würze bis hin zu teuflisch scharf!
Es eignet sich besonders gut als kleine Sensation die schnell und aufschweifend von Munde zu Munde eilt. Kaum gehört zeigt man sich tief betroffen, mit einem tiefen und lauten Einatmen, äußert man sowas wie: „Ay che Dios…“ oder „Santa María…“oder sonstige Heilige werden aufgerufen und man bekreuzigt dabei.
Es fängt schon bei kleinen unsinnigen Dingen an. Ich erinnere mich als wir Kinder eine Fratze zogen, die Augen verdrehten oder ähnliches, hieß es sofort; „Pass auf! Wenn dir dabei Wind ins Gesicht bläst, bleibst du für immer mit dieser Fratze!“ wir Kinder glaubten wirklich daran und wenn wir ein behinderten Menschen sahen, waren wir davon überzeugt, dass ihn irgendwann der Wind ins Fratzengezogenengesicht geblasen hatte.
Gab es einen Gockel zum essen, bekamen die Kinder nie die Flügel zugeteilt, man würde sonst ihren baldigen Aufbruch unterstützen. Die Beine des Hähnchens waren auch für Kinder tabu… es würde das zu frühe Davonlaufen fördern. Den Hals erst recht nicht, davon werden Kinder aufmüpfig. Das Herz hingegen wurde in vielen winzig kleinen Stücken verteil, damit auch jeder was abbekam.
Es gibt da tausende Beispiele, ich komme später darauf, erst möchte ich ein wenig über das Phänomen „Pajé“ schreiben. Im Grunde bedeutet es etwas zu tun, um etwas zu erreichen. Und um die Frage im Voraus zu beantworten; ja, auch ich habe zich Mal Pajé gemacht, bin zwar nicht aber gläubig, doch ich vermeide Dinge zu tun, von denen es immer was Negatives bedeutete. Z.B.: abends werde ich niemals eine Spinne töten… aber wehe das biest begegnet mich morgens. Ich verschenke nie Taschentücher… Ich rühre nie mit ein Messer oder spitzen Gegenstand um… Ich lass mir nie Schuhe schenken, wenn doch, dann bezahle ich sie symbolisch mit 1 €/$... Eben nur Kleinigkeiten.
Um „Pajé“ zu verstehen, nimmt bitte das bekannte „Voodoo-Bild“ aus eurem Sinn, den ihr bisher aus den Afrikanischen kennt. Es ist höchstens eine Abweichung, nicht sowas wie Nadel in Stoffpuppen piksen. Für Pajé muss etwas getan werden um etwas zu bewirken. Was eingegraben, was versteckt, was eingenommen, etc. und natürlich meist wird zusätzlich eine Kerze dazu angezündet. Ich kann mich erinnern, als wir schon in der (klein)Stadt wohnten und nur von Paraguayern umgeben waren, da erzählte mir eine Nachbarin, unter strengster Geheimhaltung versteht sich, dass sie bei andere Nachbarn durch das Fenster was ganz schlimmes entdeckte. Das Bild vom Hausherren, der kurz vorher mit einer Anderen durchgebrannt war, stand auf dem Kopf und eine Kerze brannte davor… ok, dachte ich… und, was ist so besonders daran? fragte ich… meine Nachbarin bekreuzigte sich, schaute mich vorwurfsvoll an und sagte; „weil die Frau dem Teufel persönlich um Hilfe bat!“ Ui… jetzt wurde es mir auch ganz anders, irgendwie lief es mir eiskalt den Buckel runter… „ja, wie jetzt?“ fragte ich. Sie sagte, weil das Foto auf den Kopf steht und eine Kerze davor brennt! Ich war beeindruckt!
Ob eine Kuh verkalbte, ein Hund die Tollwut bekam, die Hühner erkrankten, oder ein Gewitter aufkam, die hiesigen Angestellten wussten immer woher diese Strafe kam und schnell folgte, erfolgreich oder nicht, das Gegenmittel Pajé um eine evtl. Ausbreitung des Unglücks zu vermeiden. Wichtig war damals auch in jedem Haushalt einen sogenannten „Altar“ zu haben. Ein paar Heiligenbilder oder Figuren, ein paar Plastikblumen drum herum und immer eine brennende „Vela de cebo“ (Rinderfettkerze). Für besondere Wünsche oder als Zeichen der Dankbarkeit, zündete man eine zusätzliche Kerze an.
Bedenkt man, was sich alles so hinter einem Besen verbirgt, er kann nicht nur den Dreck wegfegen… nee, nee, er kann so viel mehr … hat man lästigem Besuch, stellt man den Besen hinter der Küchentür und der Besuch verbschiedet sich. Kehrt man einer anderen Mädel/Frau vor den Füßen, nimmt man ihr den Freund/Mann weg. Nachts durfte nicht gekehrt werden, sonst stirbt die Mutter. Ja, echt makaber.
Wenn nachts die Hunde den Mond anjaulten und sich eine schlaflose Nacht anbahnte, legte unsere Mutter ihren Schlappen neben Bett mit dem „Gesicht“ nach unten und die Hunde verstummten.
Als wir in Villarrica wohnten, gab es so viele Straßenhunde. Sah man einen Hund der gerade in die Hocke ging um sein Geschäft auf den Bürgersteig in unmittelbarer Nähe zu erledigen, konnte man das vermeiden in dem man die zwei kleinen Finger verhakte und ganz fest dran zog. Der Hund stand wieder auf und ging weiter, versuchte er es nach ein paar Meter wieder, wiederholte man das „Fingerziehen“, solange bis der Hund außer riech- und tret-Weite war. Ehrlich! Das hat immer geklappt!
Dann sind da auch noch Träume gewesen und was sie bedeuteten. Auch das hing mit Pajé zusammen. Entweder machte man Pajé um gut zu träumen, oder man machte Pajé um die Wirkung eines schlechten Traums zu vermindern. Was nicht zwangsläufig heißt, das nur schlechte Träume böse sind. Auf die Bedeutung kam es an. Träumt man z.B., dass man sich die Haare schneiden lässt, wird man seine Jungfräulichkeit in unmittelbarer Zukunft verlieren. Das musste auf jedem Fall schleunigst mit Pajé vermieden werden. War es nicht mehr zu vermeiden, dann lag es bestimmt an dem einen oder anderen Geist aus der umfangreichen Mythologie. Ach nein, das Thema Mythen und Legenden nehmen wir ein anderes Mal dran.
Pajé war nicht nur gut um Gutes zu erreichen, Pajé machte man auch wenn man Jemanden was Böses wünschte. Anschließend wurde eben eine zusätzliche Kerze, um Vergebung bittend, angezündet.
Man lebte damit, man handelte danach und fühlte ein gewisse Magie in der Luft, es war mystisch, denn man redete weniger als man munkelte, eher eine „ich sollte es zwar nicht, aber ich tue es doch“ aufregende Angelegenheit. Ich nahm es nie als selbstverständlich, im Gegenteil, bei solchen Gesprächen und Aktionen fühlte ich mich immer wie eine aufgescheuchte Katze mit dauererregtem Fell!
Nie werde ich vergessen; ich wurde von einer mir nahestehenden Person gebeten, bzw. mir wurde befohlen, ein ganze Tüte mit krummgebogenen und besprochenen Nägel in einem Haus, zu dem ich Zugang hatte, überall zu verstecken. Da mir schon keine Wahl blieb wollte ich aber doch den Zweck kennen. Es drehte sich um ein junges Liebespaar das von den Eltern der Braut aufgelöst wurde. Durch die Nägel würden die jungen Menschen nie mehr mit einem anderem Partner das Glück finden, außer sie kommen wieder zusammen. Sie kamen nie wieder zusammen. Er ist inzwischen ein älterer Mann und hat so viele Versuche hinter sich… alle Gescheitert… auch sie ist ohne eine neue Beziehung und alleine alt geworden. Heute, 41 Jahre später fühle ich mich immer noch schuldig. Doch damals hatte ich nicht die Einsicht und erst recht nicht die Stärke um mich dagegen zu wehren.
Ein anderes Beispiel; unsere Nachbarn, ein schon etwas in den Jahren gekommenes Ehepaar, erwartete endlich den lang ersehnten Nachwuchs. Übrigens ganz liebe Menschen und auch nicht dumm. Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, Pajé gehört zu jedem und nicht nur zum dummen armen Hiesigen vom Lande, nein selbst die Gelehrten glauben daran. Ich verrat euch jetzt mal ein Geheimnis; irgendwie glauben wir alle ein wenig daran, weil wir Schiss haben nicht daran zu glauben. Aber jetzt wieder zurück zu dem endlich gesegnetem jungen Eltern… die Tochter war da! Nach so langer Wartezeit, war es für die Eltern unheimlich wichtig, alles richtig zu machen und so kamen sie mehrmals am Tag zu unserer Mutter angerannt um sich einen Rat zu holen. Doch anscheinend reichte das nicht und es musste zusätzlich Pajé gemacht werden. So kam es, dass eines Tages mit Temperaturen in den 40ern, dass Baby eine komische, zu warme, ungewöhnliche und völlig überflüssige Mütze trug. Es war eine Herrensocke! Es war nicht irgendeine Herrensocke, es war eine getragene ungewaschene Socke vom Pfarrer! Es war auch nicht irgendeine getragene ungewaschene Socke vom Pfarrer, es war eine vom Pfarrer mit Weihwasser gesegnete, getragene ungewaschene Socke von sich selbst! Und da ja nichts umsonst getan wird, sollte das auch hier was bewirken, so war die Antwort der Eltern; „der Kopf des Babys ist ein wenig groß und wir hatten den Verdacht dass es sich um einen Wasserkopf handeln könnte und es heißt, die gesegnete und gebrauchte Socke des Pfarrers verhindert den Wuchs, vorausgesetzt das Kind trägt sie ständig. Unsere Mutter erklärte den jungen Eltern, dass das Köpfchen einen ganz normalen Umfang hat und das Kind prächtig gedeiht. Die socke verschwand!
Ein paar Tage später… dieselben Eltern, dasselbe Kind… das Würmchen schrie und schrie, aber komisch war, dass die Mutter nicht wie üblich zur Mutter um Hilfe bittend angerannt kam. Das wiederum beunruhigte unsere Mutter und sie ging rüber. Die junge Mutter war ein wenig verlegen und schämte sich offensichtlich. Nachdem die Unsere bohrte, rückte sie mit der Sprache raus; sie habe gehört, dass wenn man dem Baby die Augen mit Salzwasser auswäscht, würde das Kind genauso schöne blaue Augen bekommen, so wie wir (Ausländer)sie hatten.
Ist Euch aufgefallen wie eng dieser Aberglaube mit Religion zusammenhängt? Und im weitestem Sinne auch mit der Heilkunde? Ja, und genau da vertiefen wir uns jetzt. Wenn der (aber)Glaube hilft. Nehmen wir doch die Kröte, (auf dem Foto übrigens eine echte paraguayische Kröte)eines von vielen, vielen Beispiele, oder besser gesagt als Hilfsmittel. Grundsätzlich heißt es ja; einen Frosch zu töten bringt Unglück. Kein Paraguayer wird man dazu bringen, einen Frosch zu töten. Weil er Schiss hat, die Seele des Tieres könnte sich rächen. Ob er nun daran glaubt oder nicht, aber wenn… na dann doch lieber nicht. Ich erinnere mich, besonders viel später als „damals“, als wir schon Strom hatten und um den ganzen Hof Neonröhren in den Bäumen zur Beleuchtung hängen hatten, kamen die Käfer in Scharen zum Licht. Ein Festessen für die Kröten. Dick und rund haben sie sich abends die Bäuche vollgelaufen undspäter aufs Ohr in Mutter Blumentöpfe zum pennen. Die waren so groß, dass am nächsten Morgen alle Blumen platt waren. Also, Befehl von Muttern, die Frösche mussten in Jutesäcken eingesammelt werden und duzendweise weggefahren. Ich bin zwar gefahren, aber ich weigerte mich die Tiere einzusammeln, geschweige denn sie anzufassen! Es hieß doch immer, wenn du einen Frosch anfasst, werden deine Hände genauso hässlich und warzig wie der Rücken vom Frosch… ja, wir brachten alle paar Tage ein paar Säcke voller Frösche weit weg zu einem Bach.
Doch grundsätzlich ist der Frosch, nicht nur in Paraguay, sonder in ganz Südamerika für seine Heilkräfte bekannt. Übrigens werden jetzt viele Studien darüber gemacht und dokumentiert, denn der Frosch hat ganz seltene und sehr wirkungsvolle antibakterielle Flüssigkeitauscheidungen auf der Haut.
So ist es nicht nur in Paraguay bekannt, dass man die Wundrose mit einem Frosch heilt. Man nimmt einen lebendigen Frosch und streicht ihn leicht über die gesamte befallen Stelle (meistens sind es die Beine), anschließen lässt man den Frosch wieder auf dem Boden los und ob ihr es glaubt oder nicht, der Frosch geht keinen Meter und ist tot! Wenn der Frosch stirbt, beginnt sofort der Heilungsprozess, läuft er davon, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass es sich nicht um eine Wundrose handelt.
Es heißt auch, wenn eine Frau ein Kind geboren hat, nimmt entweder der Ehemann oder die Schwiegermutter einen frisch gefangenen Frosch und klopft der jungen Mutter damit auf den Rücken um den Milchfluss zu fördern. Spätestens am nächsten Tag, kann die Mutter ihrem Baby erfolgreich an der Brust anlegen, denn der Frosch hat die Milch „losgelassen“ und die Milch durch einen Frosch befördert, nimmt nie ein Ende!
Leider werden die Tiere auch oft benutzt um anderen das Böse zu wünschen. Das sind nicht gerade tolle Leistungen, aber leider wahr. Auch die „Curanderos“ (Naturheiler) nutzen oft die viel nachgesagte Heilkraft der Frösche. Im Grunde könnte man ein ganzes Buch nur über solche Froschgeschichten schreiben.
Schon viel auch das nächste Stichwort; der „Curandero“. Ein Schamane der mit Beten (oder eher „besprechen“ tut), Handauflegen, Kräuter, Rinden, Insekten und Tiere heilt, bzw. bespricht und wahrsagt.
Total aus und mit der Natur, waren und sind zum Teil heute noch, die Helfer und Retter für jedes Wehwehchen bis hin zu ernsten Fällen, sind sie Ansprechpartner Nummer 1! Besonders auf dem Land und für die Armen. Auch unser Vater (selbst Zahnarzt) mied jeden Schulmediziner und lies sich immer nur vom Curandero behandeln wenn er was hatte. Ich muss dazu sagen, er hatte nie sowas wie Erkältungen oder kleine Wehwehchen. Eher Unfälle, wie Klapperschlangenbiss, Vogelspinnenbiss, und Leistenbruch. Er hatte so gut wie nie ein Schmerzmittel genommen, erst als er an Lungenkrebs erkrankte und letztendlich auch daran starb.
Lange schleppte er sich er sich mit einem Leistenbruch herum. Ich erinnere mich, er band sich immer einen sogenannten „Bruchhaltergürtel“ um. Das Ding sah irgendwie wie ein Brustrevolverhalter aus. Aber her hatte ja nicht seinen Leistenbruch an der Brust… hi hi, da fällt mir ein; wisst Ihr wie Leistenbruch auf Japanisch heißt? „Knacki-knacki-nah-bei-sacki“. Ja, auch um seinen Leistenbruch zu heilen ging er zum Curandero. Die Geschichte muss ich unbedingt erzählen, sie hat mich sehr beeindruckt.
Er musste wiederholte Male zu seinem Naturheiler der ihn mit Gebete (mit dem Leistenbruch reden) und Tees vorbereitete, dann kam der große Tag, es musste ein besonderer Tag sein, doch das weis ich nicht mehr, ich weis nur das es an einem Freitag sein musste. Vorher sollte er einen gewissen baum finden, und zwar ist es ein Schmarotzer-Baum gewesen. Sogenannte wilde Feige, der Samen wird von den Vögel gefressen und auf einen Ast eines „Wirtsbaumes“ ausgeschieden. Dort wächst die Pflanze heran und die Wurzeln schlingen und verbreiten sich um den Wirt, bis dieser eingeht. Hier ein Foto eines solches Baumes.
Mein Vater fand so einen Baum und an den besagten Freitag musste er noch vor Sonnenaufgang da sein. Mit der aufgehenden Sonne im Rücken musste er seinem linken Fuß waagerecht an dem Baum stellen, während er auf das rechte Bein stand. Mit einem spitzen Messer musste er die Konturen des Fußes in der Rinde des Schmarotzers ritzen und das war's auch. Sein Leistenbruch ist wieder zugewachsen. Erzählt man es einen Schulmediziner, der wird abstreiten, dass sowas möglich ist. Doch mein Vater war geheilt.
So gibt es keine einzige Pflanze in Paraguay, die nicht irgendwas heilt oder zumindest gut tut. Als ich in Januar in Paraguay war, habe ich mir unter Anderem auch ein Buch über die Heilkraft der Pflanzen und dessen Anwendungen mitgebracht. Es ist wirklich eine interessante Lektüre über Pflanzen, Kräuter und Gemüse die wir fast alltäglich finden, leicht erklärt und gut bebildert. Denkt jetzt nur nicht ich wird jetzt so eine Art Kräuterhexe, aber interessant ist es allemal! Das war‘s für heute und vorläufig auch mein letzter Beitrag vor meiner Reise. Erst in Juni geht es weiter mit Erzählungen aus „Damals in Paraguay“. Wer mich zu sehr vermisst, kann hin und wieder was in „My New Life In Canada“ von mir lesen.
Ich grüße Euch herzlich und wünsche einen schönen Frühling, bzw. einen schönen „Herbst“ in Paraguay!